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Zur Familienalben-Serie von Erik Offermann
Die Erinnerung ist immer ichbezogen. Sie baut sich wie das Leben aus unzähligen Ereignissen auf. Ohne linear geordnet zu sein, können einzelne Erinnerungsbilder punktuell und unwillkürlich aus der
Vergangenheit auftauchen. Diese unvermittelt präsenten Sequenzen sind im Unterschied zu bewusst herbeigeführten Erinnerungsprozessen zumeist verschwommen und nur von kurzer Dauer. Ganz anders
verhält es sich mit dem Erinnerungsfoto. Im Durchblättern des Familienalbums wird die Chronologie der Ereignisse gewahrt, jedes Detail
ist auch nach Jahrzehnten unverändert im Bild fixiert. Längst vergessene Orte oder Begebenheiten stehen dem Betrachter ungeachtet der zeitlichen Distanz wieder lebendig vor Augen. In Erinnerungen
zu schwelgen, kann amüsant, aber auch schmerzlich sein: Unter die Zeugnisse unbeschwerter Kindertage am Meer mischen sich Fotos des verstorbenen Vaters. Mit der Einsicht, dass die Zeitläufe tragende
Konstellationen unwiderruflich verändert haben, kann auch Wehmut aufkommen. So persönlich die Urlaubs- und Familienfotos sind, ihnen eingeschrieben ist immer auch eine historische Dimension, die über
das individuell Bedeutungsvolle hinausgeht. Aus Design, Mode und Frisuren spricht ein bestimmter Zeitstil, der stellvertretend für eine ganze Generation steht. Für den Außenstehenden sind daher das
elterliche Haus, der Familienwagen oder das Foto am Strand trotz ihres intimen Nimbus nicht minder interessant als für denjenigen, der eine direkte emotionale Bindung zu den Personen und
Gegenständen besitzt. Die Vertrautheit mit Geschwistern, Eltern und Großeltern ließe sich demzufolge als ebenso singulär wie archetypisch bezeichnen: Seifenblasen pusten, Muscheln sammeln und die
Tauben zu füttern sind geradezu Topoi, die jeder aus seiner eigenen Kindheit kennt. Dass Erik Offermann diese Thematik zum Bildgegenstand einer ganzen Serie macht, hat ganz persönliche Gründe. Der
Umzug von Aachen in das benachbarte Holland stellte einen Bruch dar, der im Rückblick wie das Ende der Kindheit erlebt wird. Die Freundschaften, die zurückgelassen wurden, ebenso wie die
Entfremdung vom Elternhaus waren einschneidende Erlebnisse, die sich nachhaltig in das persönliche Gedächtnis eingegraben haben. Von Bedeutung wurde dieser Lebensabschnitt vor allem in Hinblick
auf das Heranwachsen der Kinder. Die eigene Vergangenheit wurde unwillkürlich zum Referenzobjekt für gegenwärtige Veränderungen. Erstaunlich ist die Sensibilität und Offenheit, mit der Erik Offermann
dieses fragile Thema behandelt. Die Vergrößerung der Bildvorlagen erzeugt eine Direktheit, die überwältigt, ohne aufdringlich zu sein. Aus den Alben ausgewählt hat er vor allem klar strukturierte
Fotos, die wie Stilleben wirken oder in zurückgenommener Dynamik einen Augenblick fixieren. Seifenblasenpusten oder die gebückte Mutter beim Ausleeren der Brottüte sind sehr flüchtige Momente, die
die Kindheit in ihrer schnellen Vergänglichkeit greifbar werden lassen. Dem gegenüber halten die Einzel- und Doppelportraits einen Augenblick fest, der zeitlos scheint und ohne jede Sentimentalität
auskommt. Wie auch der Ich-Erzähler in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erst aus der Erinnerung heraus seine eigentliche Berufung entdeckt, gewinnen die alten Familienfotos in
der Rückblende unverhofft an Aktualität. Bezeichnenderweise manifestiert sich auch bei Proust in der Welt der Kunst ein Bedürfnis nach konstanten Werten, die ihm allein im ästhetischen Bereich
gesichert scheinen.
Heike van den Valentyn
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